Wenn ich mit dem iPhone Stecker im Ohr von meiner Google Maps App zuverlässig zum bei Qype entdeckten Szenecafé meiner Wahl radle, meine Verspätung via Siri kurzerhand im Facebook-Messenger per Spracheingabe ankündige, dann weiß ich die Segnungen der modernen Technologie ungeheuer zu schätzen. All diese kleinen und großen Helferlein werden von simulierten künstlichen Intelligenzen betrieben, die im günstigen Fall sogar lernfähig sind, Daten sammeln, sich Gewohnheiten merken und mit der Zeit immer besser auf meine individuellen Bedürfnisse reagieren können.
Das Internet und alles was in den Dekaden danach darauf aufbaute, hat unsere Welt grundlegend verändert, oder zumindest die Art, wie wir die Welt wahrnehmen. Wer einen Anschluss an das World Wide Web findet, gehört plötzlich zu einer globalen Gemeinschaft in der Entfernungen und Zeitzonen keine Rolle mehr spielen. Nicht erst seit dem die Piratenpartei mit dem Thema Datenschutz Politik gemacht hat und Tom Hanks in „The Circle“ dubiosen weltweit agierenden Datensammlern auf die Schliche kommt, wird das Potenzial dieser Technologie aber auch kritisch gesehen.
Andreas Brandhorst hat sich Gedanken dazu gemacht, was passieren würde, wenn beim Spiel mit dem Feuer jemand die Kontrolle verlieren würde. In dem beklemmend greifbaren Szenario überwindet der Hacker Axel Krohn im verregneten Hamburg sitzend die Firewall einer Softwareschmiede und sieht sich einige Dateien an. Was als Industriespionage beginnt, wird schnell brandgefährlich als er auf eine Art Virus trifft, das sich selbst aktiviert und lawinenartig beginnt Rechner in aller Welt zu infizieren und miteinander zu vernetzen. Das genial böse programmierte Stückchen Code gewinnt dabei immer mehr an Rechenkapazität und neuen Möglichkeiten, indem es aus versteckten Datenbanken weitere Programmteile runterlädt. Niemand scheint den Siegeszug des Programms stoppen zu können, doch auch abseits der Computer wird das Leben von Axel und der Aktivistin Giselle gefährlich. Jemand scheint bemerkt zu haben, dass Axel weiß was er in Bewegung gesetzt hat. Und der eine oder andere Geheimdienst verfolgt mit dem Virus oder dem dadurch entstehendem Chaos ganz eigene Interessen.
Leseprobe:
1 Axel Krohn
Hamburg
Minus neun
Mssgr.: Gitty 3.1, verschl., Codierung Elliptic Curve,
sichere Verbindung best.
Von: Rosebud
An: AK47
Mssg.: Freut mich sehr, dass Sie erfolgreich gewesen sind. Wir treffen uns um 23:00 am alten Hafen, im Büro des Kontorhauses. Seien Sie pünktlich, ich warte nicht gern.
(Ranking: 31)
Mssgr.: Gitty 3.1, verschl., Codierung Elliptic Curve, sichere Verbindung best.
Von: AK47
An: Rosebud
Mssg.: Einverstanden. Ware gegen Geld, wie
vereinbart.
(Ranking: 314)
Der Treffpunkt beim alten Hafen gefiel ihm nicht: zu dunkel, zu abgelegen, ideal für eine Falle. Axel Krohn stellte den Motor des alten Ford ab, den er in einem mehrere Kilometer entfernten Parkhaus gegen seinen Tesla eingetauscht hatte, und spähte in die Nacht.
Zweifel stiegen in ihm auf. Weshalb ließ er sich auf so ein Treffen ein, noch dazu an einem solchen Ort? Geschäfte dieser Art ließen sich leicht und sicher über das Netz erledigen. Aber diesmal ging es um wirklich viel Geld, eine ganze Million, und der Kunde namens Rosebud hatte auf einer persönlichen Begegnung bestanden.
Axel berührte das Display seines Handys, das ihn mit dem Darknet verband, und überprüfte den Messenger. Keine neuen Nachrichten von Rosebud. Dessen Ranking war sogar noch besser geworden, von 31 auf 30. Offenbar hatte er in der Zwischenzeit zwei oder drei andere Geschäfte getätigt und gute Bewertungen erhalten, was darauf hindeutete, dass er kein Endkunde war, sondern ein Zwischenhändler, der gelegentlich auf die Dienste von Spezialisten zurückgriff. Er schien tatsächlich vertrauenswürdig, jedenfalls vertrauenswürdig genug für eine persönliche Begegnung.
Axel Krohn stieg aus und hörte das Klicken der automatischen Türverriegelung. Weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen.
Ein Regentropfen fiel ihm auf die Stirn, als er an den Gebäuden auf der rechten Seite emporsah. Links strömte träge und dunkel das Wasser der Elbe. Axel klappte den Kragen seiner Jacke hoch und ging los. Das alte Kontorhaus ragte hundert Meter vor ihm auf, alle Fenster ohne Licht. Als er es erreichte, regnete es in Strömen.
Die Tür stand offen.
Axel blieb vor dem Eingang stehen, unter dem kleinen Vordach, auf das der Regen prasselte, und sah auf die Uhr. Zwei Minuten vor elf. War Rosebud noch nicht eingetroffen?
Er betrat das dunkle, stille Gebäude. Das Flackern eines Blitzes warf für Sekundenbruchteile helles Licht in die Eingangshalle und riss eine breite Treppe aus der Finsternis. Das ehemalige Büro des seit vielen Jahren leer stehenden Kontorhauses befand sich im zweiten Stock.
Axel hatte den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als er ein Geräusch zu hören glaubte: ein leises Knirschen wie von einem vorsichtigen Schritt auf schmutzigem Boden. Er hielt den Atem an und lauschte mit offenem Mund. Nichts. Alles blieb still.
Langsam ging er die Treppe hoch und dachte dabei an den Stick in seiner Hosentasche und die Daten, die darin gespeichert waren, zusammen mit einem kleinen Programm, das er selbst entwickelt hatte. Die Daten betrafen einen Zugang zu den Computersystemen der Europäischen Zentralbank, und das kleine Programm, Intruder genannt, ermöglichte es, Kontrolle über sie zu erlangen. Axel wollte es an diesem Abend verkaufen, für eine satte Million.
Er wusste nicht, was Rosebud – oder dessen Kunden – mit den Daten und dem Intruder anstellen wollte. Geld abzweigen und auf irgendwelche Offshore-Konten überweisen? Manipulation der internationalen Finanzsysteme, einzelner Banken oder des Euro? Ging es um Geld oder Politik? Um etwas Kleines, vielleicht nur die Beobachtung interner Vorgänge und Entscheidungswege, oder etwas Großes, zum Beispiel einen Anschlag auf das finanzielle Herz von Europa? Im Darknet, dem tiefen, dunklen Teil des Internets, tummelten sich längst nicht mehr nur gewöhnliche Kriminelle, sondern auch politische Fanatiker, Terroristen und Geheimdienste, wobei die Grenzen fließend waren.
Im ersten Stock blieb Axel stehen und horchte. Nichts. Nur Regentropfen, die gegen schmutzige Scheiben prasselten, und ein gelegentliches, den Blitzen folgendes Donnern. Gab es hier Infrarotkameras, von Rosebud in der Dunkelheit versteckt? Axel trug eine Maske, eine hauchdünne Schicht aus bioaktivem Kunststoff, die seine Gesichtszüge veränderte und eine biometrische Identifikation verhinderte. Für gewöhnliche Gesichtserkennungssoftware blieb er unerkannt, aber Spezialprogramme ließen sich davon nicht täuschen. Doch damit war an diesem Ort kaum zu rechnen.
Es sei denn, seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt und dies hier war eine Falle. Für einen Moment dachte Axel Krohn, in einem früheren Leben Aram Kaynak aus Kurdistan, über die Möglichkeit nach, dass seine alten Freunde, die zu Feinden geworden waren, einen Hinterhalt vorbereitet hatten. Sie suchten ihn seit Jahren.
Axel blickte nach oben, und das grelle Flackern eines weiteren Blitzes zeigte ihm ein leeres, staubiges Treppenhaus.
Vorsichtig ging er weiter, hielt mehrmals inne und lauschte in die Finsternis. Die Tür zum Büro im zweiten Stock war geschlossen. Axel zögerte kurz, bevor er sie öffnete und eintrat.
Vor ihm zeichneten sich die Umrisse alter Schreibtische und Büroschränke ab. Axel blickte noch einmal auf seine Armbanduhr. Eine Minute nach elf.
»Ich bin pünktlich!«, sagte er laut. »Sind Sie es ebenfalls?«
Keine Antwort. Draußen prasselte noch immer der Regen.
Axel Krohn ging am ersten Schreibtisch vorbei. Ein seltsam scharfer Geruch lag in der Luft.
Hinter dem nächsten Schreibtisch saß jemand, weit nach vorn gebeugt, sodass sein Oberkörper auf der Tischplatte und der Kopf auf den Armen lag.
»Rosebud?«, fragte Axel.
Die Gestalt, offenbar ein Mann, antwortete nicht. Sie schien zu schlafen.
Axel näherte sich, streckte die Hand aus und berührte den Mann an der Schulter. Der geriet in Bewegung, und der Bürostuhl unter ihm knarrte, als der Mann zur Seite kippte, fiel und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufschlug.
Dunkle Flüssigkeit tropfte mit einem leisen Plop, plop vom Schreibtisch.
Plötzlich begriff Axel, woran ihn der scharfe Geruch erinnerte. Er stammte nicht vom Blut auf dem Schreibtisch, sondern von einer Schusswaffe. Der Mann, der neben dem Bürostuhl lag, war erschossen worden.
Während der Plot hier so rasant klingt, benötigt die Handlung in dem insgesamt mehr als 700 Seiten starken Thriller allerdings rund 150 Seiten bis Fahrt aufzunehmen. Das ist einerseits ein klein wenig langwierig aber andererseits verständlich, da der Autor die Geschichte aus mehreren Perspektiven mit Figuren an unterschiedlichen Orten der Welt schildert. Neben Axel Krohn ist beispielsweise Viktoria Jorun Dahl eine zentrale Figur, die für das Internationale Sicherheitsinstitut in Rom arbeitet. Während die politischen Machtblöcke noch nicht einmal ahnen was passiert und sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben oder alte Gegner hinter vermeintlich zielgerichteten Cyberangriffen vermuten, hat die intelligente Frau kluge Ratgeber gefunden, die sie auf die Gefahr einer entstehenden Maschinenintelligenz aufmerksam machen, vor der alle internen Streitereien der Menschheit verblassen sollten.
Andreas Brandhorst gelingt der Spagat einerseits verständlich, andererseits nicht zu banal über Themen wie künstliche Intelligenzen, Rechenkapazitäten und weltweite Datenströme zu schreiben, ohne Laien abzuhängen und die Spannung zu verlieren. Was passiert, wenn eine neu entstandene Maschinenintelligenz Abermillionen von Geräten wie Neuronen zusammenschaltet, einen Selbsterhaltungstrieb entwickelt und die Kontrolle über alle Technologien übernimmt? Wie gut funktioniert unsere moderne Gesellschaft ohne Technologie? All das ereignet sich in dem Roman in einer gar nicht so fernen Zukunft (2031) und wirkt gerade dadurch sehr real.
Die Perspektivwechsel tun der Geschichte gut und verhindern, dass der Roman Längen entwickelt. Zwischen all den technischen Herausforderungen, die es zu überwinden gilt, gibt es immer wieder sehr menschliche Situationen und auch das Herausarbeiten der Ecken und Kanten der Hauptcharaktere kommt nicht zu kurz.
Fazit: Lange verregnete Herbsttage noch kein Blockbuster oder ein neuer TripleA-Titel in Sicht? Eine gute Gelegenheit, den Controller zur Seite zu legen, eine Kerze anzuzünden und sich in den beklemmend realen, rasanten Technologie-Thriller von Andreas Brandhorst zu vertiefen. Für alle mit einem kleinen Faible für Technologie ist Spannung garantiert.
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