Ich habe den Snowpiercer, einen ellenlangen Zug, der mit den letzten Resten der Menschheit an Bord durch das ewige Eis jagt, das die Erde bedeckt, zum ersten Mal kennengelernt, als der Film von Regisseur Bong Joon-ho kurz vor der Veröffentlichung stand. Damals erfuhr ich auch, dass die Geschichte auf einem französischen Comic basiert, den ich mir aber aus unterschiedlichen Gründen letztlich nie zulegte. Vom Film selbst war ich begeistert, was wohl auch daran lag, dass meine Erwartungshaltung relativ niedrig war. Ganz anders war diese Erwartung, als dann die gleichnamige Netflix-Serie erschien, denn nun wollte ich, dass die interessanten soziologischen und politischen Aspekte des Films weiter ausgebaut wurden. Das wurden sie dann auch und zwar nicht zu knapp, sodass die Serie Snowpiercer in ihren bisher zwei Staffeln vor allem durch eine funktionierende Welt, in der es einen solchen Zug tatsächlich geben könnte, überzeugen kann. Egmont hat uns nun den ersten von zwei geplanten Sammelbänden zur Verfügung gestellt, die den französischen Comic auf Deutsch vereinen sollen.
Kommen wir zunächst zu den reinen Äußerlichkeiten. Für 34€ erhalten wir einen edlen Hardcover-Band, der die ersten drei Geschichten um den Snowpiercer enthält, die 1982 aus der Feder von Jacques Lob und Jean-Marc Rochette ihren Anfang nahmen und nach dem Tod von Lob im Jahr 1990 von Benjamin Legrand fortgesetzt wurden. Im Anschluss gibt es noch ein Nachwort mit einigen interessanten Einblicken in die Entstehung und Hintergrundgeschichte, sowie einige tolle Konzeptzeichnungen, die für Bong Joon-hos Verfilmung angefertigt wurden. Die Seiten sind aus dickem und standhaftem Papier, was das qualitativ hochwertige Paket abrundet.
Wer Film und Serie gesehen hat, kennt das grundlegende Setting bereits. Die Erde wurde von der Sonne abgeschnitten und ist in eine tiefe Eiszeit verfallen. Die Außentemperatur ist so niedrig, dass alles, was ihr ungeschützt ausgesetzt ist, sofort einfriert. Die letzten Menschen konnten sich auf einen Zug retten, der fortan unaufhaltsam über die Erde rast. Da nicht nur geladene Gäste an Bord, sondern kurz vor Abfahrt die hinteren Wagen von Fliehenden gekapert wurden, teilt sich der Zug in eine Zwei-Klassengesellschaft auf. Im vorderen Teil leben die wenigen Reichen in Saus und Braus, während am Zugende die Massen wie Vieh eingefercht leben und ums nackte Überleben kämpfen.
Die Action des Films oder die Ränkespiele der Serie sucht man im Comic allerdings vergeblich. Denn auch wenn die Prämisse ähnlich ist, legen alle drei Medien andere Schwerpunkte in ihrer Erzählung. Der Comic läuft recht ruhig ab, sodass der erste Teil sogar eigentlich nur ein einziger Spaziergang durch den Zug ist. Hier wird World Building betrieben und unser Protagonist Proloff bekommt die unterschiedlichen Bereiche des Zuges erklärt und wird mit den sozialen Unterschieden konfrontiert. Im zweiten Teil folgen wir den Landvermessern, die sich in die eisige Kälte wagen, um die Umgebung zu erforschen und nach Hinweisen auf mögliche Rettungen zu suchen. Erst im letzten Teil kommt es zur direkten Konfrontation der Parteien, allerdings weniger zwischen arm und reich als zwischen den wenigen Machthabern und dem restlichen "Volk" mit seinen verschiedenen Gruppierungen.
Neulinge finden hier ein frisches Konzept, das sicherlich Lust auf mehr macht, sei es nun in Form von Terminus, dem Finale der Trilogie, das 2015 erschienen ist und im Januar 2022 auch bei uns von Egmont veröffentlicht wird oder Wunsch, den Film oder die Serie zu konsumieren. Wer bereits Fan des Snowpiercers ist, kann mit dem Comic erst so richtig würdigen, was für herausragende Adaptionen der Film und die Serie sind. Beide Medien haben nämlich die zwar sehr interessanten, aber letztendlich nur wenig durchdachten Konzepte genommen und sie grandios ausgebaut. Da der Comic vollkommen andere Schwerpunkte setzt, hat man zwar immer ein vertrautes Gefühl, denkt aber nie, dass man weiß, was kommt.
Fazit: Snowpiercer versammelt in dieser Neuauflage die ersten drei Ausgaben des Comics und reichert sie mit ein wenig Hintergrundwissen und ein paar schicken Illustrationen an. Der Comic selbst konzentriert sich auf Klassenunterschiede und sozialpolitische Themen, die die Grundlage für zwei hervorragende Adaptionen geliefert haben, die man nun noch mehr würdigen kann. Im Januar sind wir dann gespannt auf Terminus, das in einer deutschen Erstveröffentlichung ebenfalls bei Egmont erscheinen wird. Zu erwerben gibt es Snowpiercer #1 für 34 € bei Amazon, direkt beim herausgebenden Egmont Ehapa Verlag oder im Buchhandel.
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