Bisher haben wir Karl Olsberg in diesem Special lediglich als Autor von jugendgerechten Minecraft-Romanen kennengelernt. Doch der Autor der Würfelwelt- und Das Dorf-Romane schreibt auch noch andere Bücher, die rein gar nichts mit Minecraft zu tun haben. Unter anderem hat er den Thriller Delete herausgebracht. Mit dem Technikthriller, in dem es um Hauptkommissar Eisenberg und seine Sonderermittlungsgruppe Internet (kurz SEGI) ging, feierte Olsberg einen beachtlichen Erfolg und bekam nicht nur von der Fachpresse gute Kritiken. Mit Enter ist nun der zweite Teil dieser Technikthriller-Reihe erschienen
Stell dir vor du schaust gerade Bundesliga. Es ist der 34. Spieltag und Deine Lieblingsmannschaft benötigt ein Unentschieden um sich zumindest in die Relegation zu retten. Dein Team liegt 0:1 zurück. 89. Minuten sind gespielt, da stürmt ein Spieler geradewegs aufs gegnerische Tor zu. Nur noch der Torhüter ist zu überwinden... er schießt und... und das Bild wird schwarz. Für viele mag dieses Szenario erschreckend sein. Doch genau das passiert in Karl Olsbergs neuestem Thriller Enter. Dabei ist der Blackout, der ganz Berlin lahm legt, nur der Anfang einer ganzen Anschlagsserie der bisher unbekannten Aktivistengruppe namens NTR, die damit gegen die zunehmende Versklavung der Menschen durch die Technik hinweisen wollen.
Hauptkommissar Eisenberg und seine Sonderermittlungsgruppe Internet sollen das Landeskriminalamt bei der Untersuchung der Anschläge unterstützen, doch der zuständige Fahndungsleiter hält wenig von der SEGI. Als dann auch noch ein führender Computerwissenschaftler ermordet wird, verbittet er sich endgültig jede Einmischung. Und während weitere Anschläge geschehen und die Hintergründige immer mysteriöser werden, fällt ein Schatten auf das SEGI-Team...
Leseprobe:
»Mach jetzt bitte den Computer aus, Simon.«
Sim Wissmann blickte weiter auf den mittleren der drei Monitore auf seinem Schreibtisch. Seine Finger streichelten die vertraute Tastatur, als sei sie ein freundliches Wesen.
»Nur einen Moment noch, Mama.«
»Jetzt, Simon!«
»Ja.«
Er speicherte den Programmcode, den er geschrieben hatte, legte eine lokale Sicherheitskopie davon an und sicherte ihn zusätzlich auf einem externen Flash-Laufwerk und in der Cloud. Dann fuhr er den Computer herunter.
»Ich gehe jetzt einkaufen. Ich bin in einer Stunde oder so zurück. Papa ist im Wohnzimmer und guckt Fußball.«
»Ist gut, Mama.«
»Bis gleich, mein Schatz.« Sie schloss die Tür.
Sim stand auf, streckte sich, sah sich um. Alles war, wie es sein sollte: die alphabetisch sortierten Buchrücken im Regal exakt ausgerichtet, die Tagesdecke auf seinem Bett ohne eine unnötige Falte, die Urkunden der Mathematikwettbewerbe, die er als Kind gewonnen hatte, in blank polierten Rahmen an der Wand aufgereiht. Nirgendwo lag etwas sinnlos herum.
Wenn seine Mutter ihn nicht aufgefordert hätte, den Computer auszumachen, wenn er nicht hin und wieder etwas essen und schlafen müsste, Sim hätte am liebsten für immer einfach weitergearbeitet. Der Computer war sein bester Freund: Er stellte keine dummen Fragen, er tat, was man ihm sagte, lachte nicht und schimpfte nicht, forderte nichts von einem außer hin und wieder einen Mausklick oder eine Tastatureingabe und reagierte vorhersehbar. Jedenfalls meistens. Und wenn nicht, wenn mal ein Fehler passierte, dann war das einfach nur eine neue Aufgabe, ein neues Spiel. Aber Mama bestand nun mal darauf, dass Sim sich an die »computerfreie Zeit« hielt. Und Mama war die einzige Person, der Sim glaubte, wenn sie ihm sagte, was richtig und was falsch war.
Sim genoss für einen Moment die vertrauten Geräusche: das im Einzelnen verwirrende und dennoch in seiner Gesamtheit statistisch vorhersehbare und damit beruhigende Gezwitscher der Vögel; das gleichmäßige Rauschen der Straße; das Summen des Lüfters seines Computers, der sich in drei Minuten automatisch abschalten würde, wenn die acht Prozessoren im Kern auf weniger als 40 Grad heruntergekühlt waren; das Geplärre des Fernsehers aus dem Wohnzimmer, wo der Mann saß.
Er öffnete die Augen und wandte sich der Beschäftigung zu, die ihm am meisten Spaß machte, wenn er nicht am Computer arbeiten durfte: puzzeln. Fast die gesamte Stirnwand seines Zimmers wurde von einer auf dem Boden liegenden, weiß beschichteten Holzplatte eingenommen, die der Mann für Sim besorgt hatte. Sie war drei Meter dreißig breit und einen Meter sechzig tief – gerade groß genug, um das Puzzle in seiner gesamten Größe aufzunehmen. Zufrieden betrachtete Sim die Puzzlefragmente, die bereits dort lagen. Gerade einmal 7,84 % des Bildes waren fertiggestellt; 1412 Teile, die über das ganze Brett verteilt waren, manche in kleinen, zusammenhängenden Gruppen, die meisten jedoch noch einzeln, darauf wartend, dass Sim einen passenden Nachbarn aus dem Karton fischte. Auf einen Außenstehenden hätten sie wie zufällig verstreut gewirkt, doch er wusste, dass jedes Teil an genau der richtigen Stelle lag, exakt ausgerichtet.
Eine Weile betrachtete er die Bruchstücke, die einmal ein Panoramabild der Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle bilden würden, im Zentrum die berühmten, sich beinahe berührenden Finger Gottes und Adams. Es war Sims Lieblingspuzzle. Er hatte es von Mama zum fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt bekommen und seitdem bereits zwölfmal fertiggestellt. Das machte ihm fast so viel Spaß wie Programmieren. Wenn er den Computer nicht benutzen durfte, war es mit Abstand seine liebste Beschäftigung, und er hasste nichts mehr, als dabei gestört zu werden.
Er holte sein Puzzlekissen unter dem Bett hervor und kniete sich darauf. Vorsichtig hob er den Deckel der riesigen Pappschachtel ab, griff ohne hinzuschauen hinein und holte eines der verbliebenen 16.588 Teile hervor. Schon als er es berührte und die Ein- und Ausbuchtungen und geschwungenen Ecken ertastete, wusste er, zu welchen der bereits ausliegenden Teile es auf keinen Fall passen konnte. Er warf einen kurzen Blick auf das Stück: hellgrau mit einem leichten Blauschimmer, ein unregelmäßiger dunkelgrauer Strich am Rand. Ein warmes Gefühl der Freude erfüllte ihn. Dies war ein Teil des Himmels in der Szene, in der Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, fast genau im Zentrum des Bildes. Das Beste daran war, dass dieses Puzzlestück zu einem bereits auf dem Brett liegenden passte, das somit aus seiner Einsamkeit erlöst und Teil eines zusammenhängenden Ganzen wurde.
Diese Anfangsphase des Puzzles, wenn aus winzigen Inseln in einem weißen Meer allmählich Archipele wurden, die schließlich zu Kontinenten zusammenwuchsen, mochte Sim am meisten. Die letzten fünftausend Teile, das Stopfen der noch verbliebenen Löcher, war dagegen langweilig. Aber es wäre ihm natürlich niemals in den Sinn gekommen, das Puzzle zu beenden, bevor es fertiggestellt und das letzte Teil an seinem Platz war. Während er ein Puzzlestück nach dem anderen aus dem Karton holte und es mit ruhigen Bewegungen ohne das geringste Zögern an der richtigen Stelle platzierte, verblasste die Umgebung, und er versank in einen Zustand der Harmonie und Selbstzufriedenheit, in dem er weder das Vergehen der Zeit noch die Bedürfnisse seines Körpers wahrnahm.
Eine jähe Veränderung riss ihn aus seiner Trance. Mitten in der Bewegung hielt er inne und sah sich irritiert um. Das Licht auf dem Puzzle hatte sich abrupt verändert. Jetzt sah er den Grund: Die Deckenleuchte war erloschen, obwohl Sim den Schalter nicht betätigt hatte, und nur das durch einen Baum im Garten gefilterte Tageslicht erhellte den Raum. Im selben Moment hörte er aus dem Wohnzimmer wüstes Schimpfen: »Das gibt’s doch nicht! Scheiß Kiste! Musst du ausgerechnet jetzt den Geist aufgeben?«
Sim zuckte zusammen. Er hasste es, wenn unvorhergesehene Veränderungen eintraten. Er hasste es noch mehr, beim Puzzeln gestört zu werden. Am allermeisten aber hasste er es, wenn der Mann fluchte.
Er blieb still hocken, unsicher, was er tun sollte, und hoffte, dass die Störung von selbst verschwinden würde. Aber das tat sie nicht. Im Gegenteil, es wurde noch schlimmer. Die schweren Schritte des Mannes näherten sich seinem Zimmer. Die Tür ging auf.
»Simon! Was hast du schon wieder angestellt!«
Sim rührte sich nicht, hockte einfach nur da und starrte auf die Stelle, an die er das Teil in seiner Hand legen würde, wenn die Störung vorbei war.
»Simon! Ich rede mit dir!«
»Ich puzzle!«, sagte Sim.
»Das sehe ich. Aber der Strom ist ausgefallen. Ausgerechnet in den letzten Minuten des Fußballspiels! Das ist doch bestimmt wieder dein bescheuerter Hochleistungscomputer gewesen!«
»Mein Computer ist ausgeschaltet, Papa.«
Sim wusste, dass der Mann es nicht mochte, wenn er einfach nur »Mann« genannt wurde, deswegen sagte er Papa. Er hoffte, dass der Mann sich dadurch etwas beruhigen würde.
»Ja klar. Weil der Strom weg ist. Wahrscheinlich ist eine Sicherung rausgesprungen, weil du wieder mal die Leitung überlastet hast.«
»Mein Computer hat einen Akku. Wenn der Strom ausfällt, geht er nicht einfach aus, sonst würde ich Daten verlieren. Ich habe meinen Computer heruntergefahren, als Mama mir sagte, dass meine Computerzeit zu Ende ist. Seitdem puzzle ich.«
Der Mann machte ein schnaubendes Geräusch. Er schloss die Tür mit einem schrecklich lauten Krach und rumorte draußen weiter. Sim legte das Puzzleteil an seinen Platz und nahm ein neues aus der Schachtel. Doch das wohlige Gefühl, das er eben noch gehabt hatte, wollte sich nicht mehr einstellen.
Der Mann fluchte derweil weiter vor sich hin: »So eine Sauerei … ausgerechnet heute … dass diese Idioten nicht mal in der Lage sind, die Energieversorgung sicherzustellen …«
Sim versuchte, die Störung so gut es ging zu ignorieren und sich auf das Puzzle zu konzentrieren. Doch bereits beim fünften Teil, das er platzieren wollte, ging die Tür schon wieder auf.
»Scheint so, als wär der Strom in der ganzen Gegend weg«, sagte der Mann, als wolle er damit eine Frage beantworten, die niemand gestellt hatte.
Sim erwiderte nichts, sondern platzierte sein Puzzleteil an der richtigen Stelle. Ein Stromausfall war ärgerlich, aber er gehörte zu der Art von Störungen, die man nicht beeinflussen konnte und die irgendwann von selbst wieder verschwanden, die man also am besten einfach ignorierte. Am liebsten hätte er auch den Mann ignoriert, aber er wusste aus Erfahrung, dass das nicht funktionierte.
»Sag mal, Junge, geht dein Internet eigentlich noch? Ich hab nämlich keinen Handyempfang.«
»Ich hab doch schon gesagt, mein Computer ist ausgeschaltet.«
»Ja, aber kannst du ihn nicht mal einschalten und gucken, ob du noch Internet hast? Es wäre wirklich wichtig.«
»Ja, ich kann den Computer einschalten. Unter welchen Umständen wäre das wichtig?«
»Hör auf mit den Spielchen, Simon! Ich weiß genau, dass du verstanden hast, was ich meine, auch wenn ich mich für dich unpräzise ausgedrückt habe.«
Simon seufzte. »Na gut.«
Er stand auf und fuhr den Laptop hoch. Die Anzeige besagte, dass die Maschine im Batteriebetrieb lief. Der Strom reichte für etwa zwei Stunden und zwölf Minuten.
»Ich habe eine Internetverbindung«, teilte er mit.
Der Mann beugte sich dicht über ihn. Sim mochte es nicht, wenn jemand ihm so nahe kam. Er drehte sich so weit zur Seite, wie er konnte, ohne vom Stuhl zu fallen. Der Mann tippte mit seinen klobigen Fingern auf der Tastatur herum. Sim würde sie später desinfizieren müssen.
»So ein blöder Mist!«, schimpfte er nach einer Weile. »Wieso können diese Idioten nicht schreiben, wie das Spiel ausgegangen ist?«
»Weil der Strom ausgefallen ist«, erklärte Sim.
»Ja, aber das Internet geht doch noch!«
»Das Internet würde erst dann nicht mehr funktionieren, wenn überall auf der Welt der Strom ausfiele.«
»Ich meine, die Sportergebnis-Seiten sind doch noch da.«
Sim seufzte. Es war so ungeheuer mühselig, anderen Menschen technische Zusammenhänge zu erklären. Nur bei mathematischen Themen stellten sie sich in der Regel noch begriffsstutziger an.
»Die Sportergebnis-Seiten werden auf Servern gehostet, die irgendwo stehen können, in Amerika zum Beispiel. Von einem lokalen Stromausfall sind sie höchstwahrscheinlich nicht betroffen. Die Provider, die die deutsche Netzinfrastruktur zur Verfügung stellen, haben Notstromaggregate, sonst würde meine Internetverbindung nicht funktionieren. Aber die Rechner in den Sportredaktionen haben in der Regel keine Notversorgung. Die Redakteure haben, falls ihre Computer überhaupt funktionieren, aktuell keine Möglichkeit, ihre Berichte hochzuladen. Jedenfalls die in den Gebieten, die direkt vom Stromausfall betroffen sind.«
»Und welche sind das?«
Sim tippte den Begriff »Stromausfall« in das Eingabefeld der Suchmaschine und filterte die Ergebnisse so, dass nur solche der letzten Stunde angezeigt wurden. Der oberste Eintrag war von einem Nachrichtendienst.
»Klick das mal bitte an«, sagte der Mann.
Sim gehorchte. Die Meldung war nur kurz:
Stromausfall legt Berlin lahm
Ein Stromausfall hat heute um 17:12 Uhr nahezu das gesamte Berliner Stadtgebiet lahmgelegt. Betroffen sind neben Hunderttausenden Wohnungen auch die öffentlichen Verkehrsbetriebe, die Bahn, die Flughäfen sowie die Mobilfunknetze. Es kam zu zahlreichen Unfällen und Verkehrsbehinderungen aufgrund des Ausfalls der Ampelanlagen. Die Ursachen und die Dauer bis zur Behebung der Störung sind derzeit noch unbekannt.
Mit Enter hat Karl Olsberg wieder einen Thriller mit hochaktuellen Themen verfasst, der einem vor Augen hält, wie weit wir von der Technik abhängig sind und welche Gefahren dadurch entstehen. Dabei werden auch viele technische Dinge erklärt, allerdings erfreulich verständlich und nicht etwa mit irgendwelchem Fachchinesisch. Doch nicht nur die Thematik ist interessant, auch die verschiedenen Charaktere haben dieses Prädikat verdient. Leider werden die Persönlichkeiten der einzelnen Charaktere aber nicht immer so weit dargestellt wie man es sich eventuell gewünscht hätte. Außerdem gibt es durch Vorträge, die die Charaktere halten, immer wieder Längen, die den Leserhythmus etwas stören. Fazit:
Auch wenn es ein paar Längen gibt und die Charaktere nicht immer so tiefgründig dargestellt werden, wie man es sich manchmal gewünscht hätte, ist Enter dennoch ein hochinteressanter und brisanter Thriller, der einen auch durchaus ein wenig nachdenklich macht, ob die ganze digitalisierte Welt wirklich so gut ist. Wer sich für das Thema interessiert, sollte sich Enter also auf keinen Fall entgehen lassen. Von mir gibt es jedenfalls eine glatte Leseempfehlung!
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