Jedem, der sich für Computer- bzw. Videospiel-affine Literatur interessiert, dürfte der Name Boris Kretzinger ein Begriff sein. Schließlich veröffentlicht der Eifelaner nicht nur regelmäßig Beiträge zur Computer- und Videospielgeschichte der 70er und 80er Jahre, sondern seit 2005 auch drei Werke über den Computerpionier Commodore. Mit Nerdvana traute er sich nun das erste Mal an einen Roman, den wir euch an dieser Stelle einmal ein bisschen genauer vorstellen wollen.
Im den meisten Romanen, in denen Nerds die Hauptprotagonisten spielen, werden sie unverhofft zu Helden, die spannende Abenteuer mit mitunter sogar bleihaltiger Luft erleben. Boris Kretzinger hat sich für seinen ersten Roman hingegen etwas anderes einfallen lassen: Sein Hauptprotagonist ist zwar auch ein Nerd, allerdings wird aus ihm nicht plötzlich ein kämpfender Held. Kretzinger versucht hingegen möglichst realitätsnah zu bleiben und schafft dies auch sehr gut. So ist Paul, wie der Hauptprotagonist in Nerdvana heißt, ein ganz normaler Nerd, der liebend gern C64-Spiele spielt und sammelt und natürlich auch mit einem Großteil seiner Freunde über Retrotitel philosophiert. Ein Platz, an dem er das am besten machen kann und ab und an auch ein paar Schätzchen für seine Sammlung findet, ist die Schatztruhe, der Videospielladen seines Freundes, in dem er viel Zeit verbringt. Doch wie es kleinen Gaming-Läden nun einmal oft geht, steht auch die Schatztruhe schon bald vor dem Aus. Um dies abzuwenden, hecken er und seine Freunde einen Plan aus: sie wollen besonders seltene und wertvolle Videospiele fälschen und mit deren Verkauf den Laden retten... Leseprobe Der Bildschirm baut sich auf. Ein einsamer Mensch in einem Labyrinth voller Roboter, deren grobpixelige Physiognomie mich an Maximilian aus «Das schwarze Loch» erinnert. Ich muss es lebend zu einem der Ausgänge des Raums schaffen und darf dabei weder die Wände berühren, noch mich von dem halben Dutzend Robotern erschießen lassen. Asimov hätte sicherlich einige Einwände gegen diese unverzeihliche Verletzung des ersten Robotergesetzes vorzubringen gewusst. Ob er sich Zeit seines Lebens auch mit Videospielen beschäftigte? Immerhin war er das Werbegesicht von Radio Shack in den USA während der frühen Achtziger Jahre. Voller Anspannung umschließt meine rechte Hand den Steuerknüppel, während meine linke die klobige Joystickbasis zu halten versucht, ohne den schnellen Zugriff auf den Feuerknopf zu verlieren.
«Okay, ein letzter Versuch.»
Das metallische Klicken der Mikroschalter hallt durch meine karge Wohnung. Jede Bewegung wird von diesem unverwechselbaren Klackern des Joysticks begleitet. Verglichen mit der geräuschlosen Funktion moderner Controller sind digitale Joysticks lärmende Relikte einer vergangenen Ära. Aber diese Geräuschkulisse ist Teil des Spielerlebnisses, das nur mit rudimentären Soundeffekten und gänzlich ohne Musik auskommt.
Ich renne am ersten Roboter vorbei. Er folgt mir, kollidiert jedoch mit der Wand und zerschellt. Einen weiteren, der direkt auf mich zukommt, schieße ich ab. Zwei andere stehen noch immer recht unbeteiligt in der unteren rechten Bildschirmecke. Plötzlich feuert der hintere einen Schuss ab und zerstört damit seinen vor ihm stehenden Kollegen.
Glück für mich, denn in der Zeit bis zu seinem nächsten Schuss gebe ich ihm diagonal von oben eins mit. 7.670 Punkte – das ist noch lange nicht genug. Tom hat 16.720 geschafft, und die muss ich schlagen. Ein hohes Piepen signalisiert, dass ich ein Leben dazugewonnen habe. Langsam verschwindet das aktuelle Labyrinth und ein neuer Raum baut sich auf.
Es klingelt.
«Bitte nicht jetzt», beschwere ich mich flüsternd und versuche, die Konzentration aufrecht zu erhalten. Ein Schuss verfehlt mich nur knapp. Kopf und Rumpf meiner Spielfigur sind nicht verbunden, sodass die gegnerischen Schüsse auf keinen Widerstand treffen. Echte Könner nutzen diesen Effekt zu ihren Gunsten, aber beinahe immer, wenn ich es darauf ankommen lasse, gehe ich ein Pixel zu weit und es erwischt mich dennoch. Das Spiel wird schneller, je weiter ich vordringe. Mehr Roboter, schnellere Schüsse.
Jetzt müssen meine Bewegungen umso präziser sein.
Es klingelt erneut.
Ich presse die Lippen zusammen, sonst würde ich zweifelsfrei eine wenig freundliche Bemerkung über die Intelligenz des Klingelnden, sein mögliches Pendant in der Tierwelt oder seine sexuelle Orientierung machen. Möglicherweise auch eine Kombination aus all diesen Elementen. Der Gedanke beschäftigt mich einen Moment zu lange, sodass ich das kürzlich erst dazugewonnene Leben wieder verliere.
Ein Blick auf den Punktestand zeigt 8.430. Längst nicht genug, um Toms Highscore zu knacken. Jetzt wird es ohnehin nichts mehr. Da mein Atari keine Pause-Taste hat, schalte ich es kurzerhand ab und gehe missmutig zur Tür.
«Hallo Paul!» posaunt mir Linus gut gelaunt entgegen. Ich ringe mir ein schiefes Lächeln ab und nicke nur.
«Du wirst nicht glauben, was mir heute passiert ist.» Ich trotte zurück ins Wohnzimmer und lasse mich in eine Ecke der Couch fallen, während er die Haustür hinter sich schließt und sich in den Sessel schwingt.
«Möchtest du etwas trinken?», frage ich wie beiläufig. Linus winkt zum Glück schnell ab, sonst hätte ich noch einmal aufstehen müssen.
«Ich habe heute die Schnecke in der Bäckerei gefragt, ob sie mit mir einen Kaffee trinken geht.»
«Und?»
«Sie meinte, sie habe schon einen Freund. Die hat die Frage wohl nicht verstanden ...»
«Ich glaube, sie hat die Frage sogar sehr gut verstanden.» Linus grinst.
«Darum habe ich auch sofort nachgefragt, ob sie nicht einen besseren wolle, aber sie ist nur rot geworden und in der Backstube verschwunden.» Ich ringe mir ein kleines Schmunzeln ab und warte, ob er diesem Ereignis noch eine spannende Wendung angedeihen lässt oder ob ich meine Chance auf den Highscore dieser ziemlich langweiligen Kurzgeschichte geopfert habe.
Es scheint nichts weiter zu kommen.
«Du spielst wieder diesen Oldschool-Kram, was?», fragt er mit Blick auf den auf dem Tisch stehenden Joystick.
Er liebt dieses Wort, «oldschool», wobei das für ihn alles aus der Zeit zwischen 1950 und 1995 einschließt.
«Richtig. Kennst mich doch, ich bin nun mal ein Nerd.» Wieder eine kurze Pause.
Obwohl in dieser Geschichte also keine spektakulären Verfolgungsjagden, Schießereien und Explosionen oder Reisen um den halben Kontinent stattfinden, ist die Geschichte dennoch von der ersten bis zur letzten Seite spannend und fesselnd, denn Kretzinger hat es geschafft, die Story so zu schreiben, als ob sie wirklich passiert wäre (was ja vielleicht sogar der Wahrheit entspricht - wer weiß). Er beschreibt sogar die Probleme, die man beim Fälschen der Labels hat, damit diese auch ja originalgetreu aussehen. Und genau das macht diese Geschichte so lesenswert.
Hinzu kommt aber auch noch der sympathische Hauptcharakter Paul. Genau wie andere vergleichbare Hauptcharaktere ist Paul zwar auch jemand, der gerne über alte Spiele redet und auch jede Menge Fakten und Anekdoten zu ihnen zu erzählen weiß (was er im Buch auch des Öfteren macht), doch anders als die anderen Nerds dreht sich bei ihm scheinbar nicht alles nur um dieses Thema und nervt diejenigen, die davon nichts wissen wollen auch nicht permanent mit irgendwelchen Fakten, sondern behält es eher für sich. Stattdessen geht er auch mal mit Freunden in ganz normale Clubs und kann dort sogar mit Frauen sprechen (was bei vielen Nerds, die in Büchern vorkommen, ja leider nicht der Fall ist). All dies macht ihn so sympathisch und vertraut, denn wenn wir ehrlich sind, reden echte Nerds gegenüber anderen, die nichts damit anfangen können, ja auch eher selten über ihr Lieblingsthema und können durchaus mit Frauen sprechen.
Doch nicht nur die Story und die Zeichnung des Hauptcharakters gefallen mir an Nerdvana sehr gut, auch das Coverdesign ist hervorragend. Unwissenden wird das Braun mit dem schlichten Schriftzug und dem Comicelefanten sicherlich etwas langweilig vorkommen, doch wer schon einmal ein C64-Modul in der Hand gehabt hat, wird sofort erkennen, dass das Coverdesign dem typischen Design eines C64-Cartridge-Covers nachempfunden wurde und somit perfekt zur Story des Buches passt. Fazit: Nerdvana erinnert mich an alte Ganoven-Filme. Auch die kamen zum Teil ohne große Actionsequenzen oder Explosionen aus und waren dennoch verdammt spannend. Und genau so ist es eben auch bei Nerdvana, denn auch ohne Action, Verfolgungsjagden oder ähnliches ist der Premieren-Roman von Boris Ketzinger von der ersten bis zur letzten Sekunde interessant, unterhaltsam und nicht zuletzt spannend. Geschafft wird dies durch den realistischen Ansatz, wie Paul und seine Kumpels die Spiele fälschen und die Frage, ob sie damit durchkommen. Ich für meinen Teil konnte Nerdvana zumindest nur schwerlich wieder aus der Hand legen und ich denke, vielen anderen Retro-Freunden wird es nicht anders ergehen.
Nerdvana findet ihr für 9,90€ bei Amazon oder im gut sortierten Buchhandel.
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